Das Stillleben im 21. Jahrhundert.
Von Fischbrötchen, Eierschachteln und Schafen
Stillleben gehören zu den narrativsten Bildgattungen der Kunstgeschichte. Mit ihrem Ursprung in den heutigen Niederlanden, bezeugten sie den Reichtum der neu entstandenen, wohlhabenden bürgerlichen Schicht, der auf den weltumspannenden Handel der niederländischen Republik im 16. und 17. Jahrhundert zurückzuführen ist. In repräsentativen Darstellungen zeigen die Gemälde, nobles auf eine nicht zu Ende scheinende Tafel drapierte Speisen, Musikinstrumente und Tierdarstellungen, bis hin zu Blumenbouquets, die aus kostbaren Schnittblumen zu einem Strauß gebunden und zum Teil mit Käfern und Schmetterlingen verziert wurden. Alle diese verschiedenen Präsentationen der Objekte, wie auch von alltäglichen Gegenständen, Tieren oder Pflanzen, offenbarten dem Kundigen verschlüsselte Botschaften.
Im 21. Jahrhundert scheint von der Bedeutung des Stilllebens nicht viel verloren gegangen zu sein, wie es der Künstler Thomas Jüptner auf eindrucksvolle Art und Weise den Betrachter erleben lässt. In einer für den Handel üblichen grünen Schachtel beispielsweise, die für 6 Eier bestimmt ist, fehlt ein Ei, das aus der Mitte der vorderen Reihe entnommen wurde - dieses augenscheinlich „tote“ Stillleben beschreibt einen aktiven Vorgang, der möglicherweise noch nicht beendet ist. Symbolisch kann diese Darstellung des Ei als Wiederkehr des Lebens gedeutet werden, wobei diesem tierischem Produkt auch die Zuweisung von Fruchtbarkeit zuteil wird.
Ebenso erzählen die beiden Gemälde, die eine brennende und eine erloschene Kerze zeigen, von Hoffnung und fortschreitender Zeit sowie von Vergänglichkeit. Der Künstler bleibt auch hier seiner Intention treu, indem er der den aktiven Blickpunkt, den Kerzenrauch, in den Mittelpunkt rückt. In offensichtlich jüngster Vergangenheit, ist die Kerze mit ihrer kleinen aber hellen Flamme erloschen. Der senkrecht, aufsteigende Schwefelrauch bezeugt von dem erst kürzlich stattgefundenem Geschehnis, der Künstler selbst lässt offen, aus welchen Gründen. Eine angedeutete Öffnung, einem Fenster gleich, welche einen Blick in die Ferne zulässt, scheint nicht die Ursache zu sein. Thomas Jüptner präsentiert in diesem Gemälde einen starken Gegensatz, denn obwohl die Kerze noch ihre volle Länge besitzt, ist jedoch kein funken Leben mehr in ihr, es scheint, als ob das vorherige Pendant dazu bereits einen Hinweis geben soll. Ein weiteres Motiv der Vergänglichkeit des Lebens, das der Künstler in sein Repertoire aufgenommen hat, ist die Darstellung des Memento mori, ein Symbol der Vanitas. Es zeigt einen menschlichen Schädel, dessen Gebiss nicht vollständig ausgeführt ist. Sein geöffneter Mund, zu einem Lachen bereit, verstärkt die Präsenz dieser Thematik.
Mystisch wirkt dagegen das Gemälde einer Schafherde. Umrahmt von dunklen Farbtönen, stehen Schafe in der Abenddämmerung auf einer Weide, ihre Augen wirken für diese Tierart ungewöhnlich fluoreszierend. Sie wenden ihre Köpfe in verschieden Richtungen nach links, rechts und dem Betrachter zu, als ob, aus dieser jeweiligen Position, etwas ihre Aufmerksamkeit erweckt.
Eine Lichtquelle, die zur möglichen Aufklärung dieses Phänomens beitragen würde, sollte nicht Bestandteil dieses Bildes sein. Gerade diese fehlende Komponente, die vom Künstler bewusst nicht in das Gemälde mit integriert beziehungsweise angedeutet wurde, lässt dieses Werk zu einer interpretativen und zugleich narrativen Komposition werden, die den Besucher in eine geheimnisvoll wirkende Atmosphäre mit nimmt. Hingegen kann das Einzelporträt eines Schafes, das, so scheint es, wie zwischen Wolken eingebettet frontal auf den Betrachter zu kommt, fast schon als sakrales Motiv - Agnus dei - gedeutet werden. Sein hinteres Bein, noch umhüllt von himmlischer Witterung, schreitet das Schaf aus dem Nichts kommend in die Helligkeit. Die Mimik ist so detailliert wiedergegeben, das die Gefühle dieses Tieres für jeden lesbar sind.
Auch bei dem Hasenporträt vor dunklem Hintergrund, das beim ersten Ansehen an das Ganzkörperporträt des von Albrecht Dürer entworfenen Hasen erinnert, hat Thomas Jüptner dem Tier ebenfalls beinahe menschlich wirkende Gesichtszüge angeeignet. Vor allem bei genauerer Betrachtung der Augen des Hasen, so wach und aufmerksam, zieht sein fixierender Blick jeden Besucher in seinen Bann.
Um das Œuvre des Künstlers zu komplementieren, muss die Erwähnung seines Fischstilllebens erfolgen. Vor einem hellen Hintergrund, der undefinierbar bleiben muss, liegt ein Fischbrötchen. Bei intensiverer Auseinandersetzung könnte auch hier eine christlich-thematische Zuweisung erfolgen. Der Fisch als christliches Symbol und das Brötchen als Laib Christi. Thomas Jüptner rezipiert hier in abstrakter Form eine Darstellungsweise religiöser Thematik, die in frühester Form bis auf das 15. Jahrhundert zurückzuführen ist.
Sylvana Trensch, Kunsthistorikerin